Haus & Grund Gießen sendet ein Solidaritätssignal an die Mieter. Ein Nürnberger Vermieter fordert andere Vermieter auf, so wie er für Mieter geschlossener Geschäfte die Miete zu halbieren. Das sind Einzelfälle. Doch eine Umfrage des Beratungsunternehmens RUECKERCONSULT bestätigt: Die Mehrheit der Immobilieneigentümer verhält sich in der Corona-Krise solidarisch mit den Mietern. Die Bereitschaft Mieten zu stunden ist groß.
Das klingt positiv und kommt in der Öffentlichkeit gut an. Schließlich will kein Gewerberaumvermieter an den Pranger gestellt werden, weil er einen kleinen Einzelhändler oder den Imbiss an der Ecke in die Insolvenz getrieben hat. „Vermieter macht Familie obdachlos“ will auch kein Wohnungseigentümer über sich lesen.
Aber: Was heißt Solidarität eigentlich? Wer nachschlägt bekommt viele Interpretationen, etwa diese allgemeine: Solidarität sei ein Ausdruck von Verbundenheit. Wer sich solidarisch verhalte unterstütze gemeinsame Ziele.
Seit wann haben Mieter und Vermieter gemeinsame Ziele? Der Vermieter betreibt Miet- und Gewinnmaximierung, sofern er nicht gemeinnützig ist oder sich sozial verantwortlich fühlt. Der Mieter will möglichst wenig Miete zahlen, denn Mieten sind Kosten. Das sind gegensätzliche Ziele.
Solidarität war ein dominanter Begriff der Arbeiterbewegung. Arbeiter verhielten sich nie solidarisch mit Unternehmern. Wer mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen verlangt, maximiert keinen Gewinn. Trotzdem stimmten Arbeitnehmer immer wieder in Ausnahmefällen Gehaltskürzungen zu, damit ihre Arbeitgeber wirtschaftlich überlebten und retteten so zumindest einen Großteil ihres Einkommens.
Solidarität ist ein Modewort geworden, dessen inflationäre Verwendung der frühere Bremer Bürgermeister Henning Scherf in seinem Buch „Gemeinsam statt einsam“ beklagt. „Wer sich an die Menschen wendet, egal ob von links oder von rechts, ob er Gewerkschaftssekretär ist oder Unternehmensverbandsfunktionär, trägt dieses Wort gern wie ein Legitimationsschild vor sich her“, schreibt er.
Wenn Vermieter sich mit Mietern solidarisieren, dann am ehesten im Sinne von Émile Durkheim. Der französische Soziologe stellte Ende des 19. Jahrhunderts heraus, dass Menschen in einer zunehmend arbeitsteiligen Welt aufeinander angewiesen sind und prägte dafür den Begriff der organischen Solidarität.
Mieter und Vermieter sind aufeinander angewiesen. Einen wegen der Corona-Krise zahlungsunfähigen Mieter herauszuwerfen macht weder für Gewerberaum- noch für Wohnungseigentümer Sinn. Denn Gewerbemieter finden, die mehr zahlen als der Altmieter wird auch nach dem Ende des Kontaktverbots kaum gelingen. Und für weiterhin knappen Wohnraum höhere Mieten zu verlangen scheitert an sinkenden Einkommen.
Mietstundungen und -verzichte sind also kein Akt der Solidarität, sondern der wirtschaftlichen Vernunft.
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Erstveröffentlichung: The Property Post, April 2020