Gendergerecht bauen - Stadtplanerin Eva Kail erklärt, was das bedeutet.
Städten sieht man an, dass sie von Männern für Männer geplant werden und Frauen benachteiligen, ist die Wiener Stadtplanerin Eva Kail überzeugt. Im Telefongespräch mit The Property Post (TPP) stellt sich schnell heraus, dass es Ihr um mehr geht, als diese These mit Beispielen zu belegen.
TPP: Frau Kail, woran erkennen Sie, dass Männer Städte planen?
Eva Kail: Beispielsweise daran, dass Städte nach dem Krieg autogerecht geplant wurden, damit Männer schnell von der Wohnung zur Arbeit und zurückkommen. Nach traditionellem Verständnis waren sie Ernährer der Familie und nicht für Hausarbeit und Kindererziehung zuständig. Folglich mussten Frauen die häufig langen Wege zu Kindergärten, Schulen und zum Einkaufen zu Fuß erledigen. In Wien sind auch heute noch 55 Prozent aller zu Fuß Gehenden Frauen. Als ich vor 30 Jahren Stadtplanerin in der österreichischen Hauptstadt wurde, lag der Anteil sogar noch bei mehr als zwei Dritteln.
TPP: Aber, das Rollenbild von Frauen und Männern hat sich doch längst verändert.
EK: Gender ist mehr als nur das Geschlecht. Es geht um Lebensphasen, Alter, kulturelle Prägung, soziale Rollen, Einkommensklassen, gegebenenfalls Migrationshintergrund. Wenn Stadtstrukturen so sind, dass Einkaufen anstrengend und zeitaufwändig ist, wenn die Schulwege so unsicher sind, dass Kinder nicht unbegleitet zur Schule gehen können, dann erzeugt das Elternarbeit für Frauen und Männer, die das ja auch zunehmend machen. Es geht nicht allein darum, Nachteile für Frauen aufzuheben, sondern auch darum, durch Gender Planning für viele Menschen das Leben in der Stadt einfacher und angenehmer zu gestalten. Das bedeutet, dass die Wege barrierefrei sind. Von breiteren Bürgersteigen profitieren ganz besonders Ältere, Gebrechliche, Kinder und die, die einen Kinderwagen schieben. Kindertagesstätten und Schulen sollten gut zu Fuß, mit dem Rad oder öffentlichen Personennahverkehr erreichbar sein.
TPP: Sind gefährliche Schulwege die Ursache für die von „Elterntaxis“ zugeparkten Geh- und Radwege vor Schulen?
EK: Ja, da sprechen Sie ein echtes Problem an. Um es zu lösen haben wir in Wien sogenannte Schulstraßen eingeführt. In Schulstraßen sperren wir jeweils 30 Minuten vor Schulbeginn und vor Schulende den Bereich vor der Schule für sämtliche Kraftfahrzeuge. Seitdem ist in diesen Straßen vor Schulen und in deren näheren Umgebung das Verkehrsaufkommen gesunken. In anderen Städten gibt es oft seit vielen Jahren Projekte, in denen erwachsene Freiwillige Kinder nach einem festen Fahrplan und mit einer festen Route zur Schule und wieder nach Hause begleiten. In Heidelberg wird dieses Modell „Laufender Schulbus“ genannt.
TPP: Wie ist es um die gendergerechte Stadtplanung für Kinder und Jugendliche bestellt?
EK: Leider werden die Planung von Parks und öffentlichen Spielplätzen häufig an den Interessen der männlichen Jugendlichen ausgerichtet. Werden dort etwa Fußballkäfige angelegt, werden die oft sofort von den Jungs besetzt, wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot. Andere Ballspielangebote wie Volleyball fehlen oft. Wenn attraktive Angebote für Mädchen fehlen, werden solche Parks für sie uninteressant, sie ziehen sich zurück. Außerdem ist die Gefahr sexueller Belästigung ist für viele Mädchen eine reale. Wenn Wege zu Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel durch sogenannte Angsträume wie unbelebte Gebiete und Gassen mit unübersichtlichen, schlecht beleuchteten Ecken führen, wo es keine soziale Kontrolle gibt, erzeugt das zumindest ein unangenehmes Gefühl.
TPP: Wer an Gender Planning denkt, denkt nicht unbedingt an den Öffentlichen Nahverkehr – Sie schon.
EK: Ja, die Alltagsqualität in Städten ist für viele auch stark davon beeinflusst, wie gut das öffentliche Verkehrsnetz ist. Wie häufig fahren Busse und Bahnen in den Morgen- und Abendstunden? Können Schichtarbeiterinnen angstfrei mit dem öffentlichen Nahverkehr von und zur Arbeit kommen? Diese Betrachtung schließt den Weg zu den Haltestellen und die Gegebenheiten an den Haltestellen ein. Viele unterirdische U- und S-Bahnstationen haben ein oft weitverzweigtes Tunnelsystem, so dass Fahrgäste zum Umsteigen lange Wege zurücklegen müssen. In solchen Umsteigeknoten wird die soziale Kontrolle durch Bäckereien und Verkaufsstände stark erhöht. Auch barrierefreie Einstiege in Busse und Bahnen sind wichtig.
TPP: Genügen barrierefreie Einstiege in Busse und Bahnen, um ältere Menschen Mobilität zu ermöglichen?
EK: Nein, in Wien haben wir festgestellt, dass Menschen über 75 Jahre wesentlich seltener ihre Wohnung verlassen als jüngere Personen. Das hat nicht allein damit zu tun, dass sie schlechter zu Fuß sind. Das liegt auch daran, dass sie sich bei schlechter Beleuchtung und auf unübersichtlichen Wegen unwohl fühlen. Ihr subjektive Sicherheitsgefühl lässt sich durch gute Gestaltung verbessern.
TPP: Die Corona-Krise hat die Menschen aufs Fahrrad gebracht. Wie ist es um die Radwege in den Städten bestellt?
EK: Historisch betrachtet, waren Radwege in den Städten nicht vorgesehen. Wirklich komfortable Radwege fehlen vielerorts. Würde das geändert, wäre der Anteil Rad fahrender Frauen auch höher. Noch ist Rad fahren eher eine Männerdomäne.
TPP: Sie haben viele Fehler und Versäumnisse von Stadtplanern zusammengetragen. Doch, was zeichnet eine gendergerechte Stadt aus?
EK: Eine gendergerechte Stadt zeichnet aus, dass der Alltag für alle gut funktioniert, eigentlich geht es um Selbstverständlichkeiten. Es gibt ein breites Angebot an Parks, ruhige, geschützte und begrünte Innenhöfe, Stellen, wo Jugendliche laut sein dürfen, wo sie sich ein wenig außerhalb der sozialen Kontrolle der Erwachsenen aufhalten können. In der gendergerechten Kommune sind genügend schnell erreichbare Nahversorger angesiedelt und ausreichende und gut erreichbare Kindertagesstätten und Schulen vorhanden, die über schöne Gärten und Schulhöfe verfügen. Eine solche Stadt bietet allgemein genügend Freiräume, Räume, die im Frühjahr und Herbst in der Sonne liegen und auch solche, die im Sommer ausrechend beschattet sind. Die Wohnungen sind barrierefrei und die Wände schlucken Lärm, um Ärger mit Nachbarn zu vermeiden. Eine solche Stadt ermöglicht es den verschiedenen gesellschaftliche Gruppen und Schichten sich zumindest konfliktfrei nebeneinander im öffentlichen Raum aufzuhalten, weil es genug Platz und Sitzangebote für alle gibt. Das heißt nicht, dass sich dort alle Menschen liebhaben müssen und dann ganz viel positive soziale Interaktion stattfindet - denn diesen integrativen Anspruch zwischen verschiedenen sozialen Gruppen halte ich zumindest in Großstädten für unrealistisch und daher überzogen. Und – in einer gendergerechten Stadt sind die öffentlichen Wege barrierefrei, so dass auch Menschen, die auf Rollator oder Rollstuhl angewiesen sind, am öffentlichen Leben teilhaben können.
TPP: Sie haben viele Kriterien genannt, anhand derer man die Gendersensibilität einer Stadt messen könnte. In Deutschland wird jedes Jahr die fahrradfreundlichste Stadt gekürt. Gibt es auch einen Wettbewerb um den Titel „Gendersensibelste Stadt“?
EK: Ein Ranking von Städten nach Gendersensibilität ist mir nicht bekannt. Ein solches Ranking wäre spannend. Ich kann sagen, dass wir uns in Wien seit 30 Jahren mit dem Thema befassen. Wir haben geschlechtssensible Parks geschaffen. Wir haben Pilotprojekte zu vielen gendersensiblen Maßnahmen durchgeführt, etwa in Zusammenarbeit mit Mädchen, und die Ergebnisse umgesetzt. Bei uns ist viel auf diesem Gebiet passiert. Was ich wahrnehme ist, dass Paris und Barcelona jetzt auch ziemlich aktiv sind, auch Berlin und München haben einiges gemacht.
TPP: Projektentwickler für sich gewinnen. Die fragen zuerst: Was kostet es? Ist gendergerechtes Bauen teurer als herkömmliches Bauen?
EK: Gendergerechtes Bauen bedeutet zielgruppengerecht zu bauen. Ich habe während meiner Arbeit viele Bauträgerwettbewerbe der Stadt Wien als Jurymitglied erlebt. Letztendlich ging es darum: Welche Qualität für welche Gruppe bekomme ich zu welchen Projektkosten? Was ist mir dann wichtig? Im geförderten Wohnbau gibt es einen Kostendeckel, der einzuhalten ist. Früher haben viele Entwickler bei den Freiflächen gespart. Das Geld ist in Tiefgaragen geflossen, die wegen hohen Grundwasserstandes als wasserdichte Betonwannen ausgestaltet werden mussten und für die bereits knapp kalkulierte Gestaltung der Freifläche blieb aufgrund der nicht vorher kalkulierten Zusatzkosten für die Garagen - überspitzt formuliert - nur mehr der billigste Grassamen übrig. Dabei hat für die Menschen, die später in den geplanten Projekten wohnen, die Qualität der Freiflächen meist eine hohe Bedeutung - jedenfalls für Kinder, Jugendliche, alte Menschen und betreuende Personen. Gerade Corona hat gezeigt, wie wichtig die Qualität der Außenanlagen ist, wo sich Menschen auch mit genügend Abstand im Freien treffen konnten. Stehen dort Tische und Bänke? Gibt es außen am Gebäude einen Wasseranschluss? Kann ich in unmittelbarer Nähe im Erdgeschoss zur Toilette gehen? Diese Möglichkeiten zu schaffen kostet wenig, sie verbessern aber die Aufenthaltsqualität einer Anlage enorm.
TPP: Haben sich die Projekte inzwischen geändert?
EK: Ja – durchaus. Die Qualitätskontrolle in der Wohnbauförderung der Stadt Wien hat dazu geführt, dass Waschsalons im Erdgeschosse mit der Möglichkeit des Blickkontakts zum Kinderspielplatz angeboten werden oder auch gemeinschaftlich nutzbare Dachterrassen. Das kostet nicht so viel. Obwohl es vermietbare Fläche reduziert, werden oft großzügige Foyers angeboten. Dort können sich Menschen treffen, stehen bleiben und tratschen. Es gibt in der Soziologie so etwas wie eine „Grußgrenze“. Sie spielt eine Rolle bei der Entscheidung, wie viele Wohnungen erschließe ich über ein Treppenhaus. Die Grenze liegt bei ca. 30 Haushalten. Danach, so sagen Soziologen, kann der Mensch nicht mehr entscheiden, ob er auf der Treppe einen Nachbarn oder einen Fremden trifft. Das macht einen Unterschied in der sozialen Qualität. Zusätzlichen Stiegenhäuser, damit diese Grenze nicht überschritten wird, sind dann aber ein echter Kostenfaktor.
TPP: Wo widerspricht gendergerechtes Planen der Stadtplanung?
EK: Wir haben in Wien festgestellt, dass es zu Widersprüchen kommt, wenn einerseits großzügige Freiflächen gewünscht sind und gleichzeitig Verdichtung auf knappem Baugrund gefordert wird, im geförderten Wohnbau auch, um leistbares Wohnen sicherzustellen. Das ist dann auch aus Gendersicht ein echter Zielkonflikt. Es geht letztlich darum, den menschlichen Maßstab zu bewahren. Nicht umsonst wird Städtebau auch als Kunst bezeichnet, und die entsteht ja oft unter schwierigen Rahmenbedingungen.
TPP: Frau Kail, vielen Dank für das Interview.
Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von The Property Post
Erstveröffentlichung: The Property Post, Juli 2021