10.06.2020

Wien als Vorbild?

„Wir haben rasch in den Krisen-Modus umgeschaltet!“

Kathrin Gaál, Amtsführende Stadträtin für Wohnen, Wohnbau, Stadterneuerung und Frauen, Stadt Wien
Kathrin Gaál

Ein Interview mit Wiens Wohnbaustadträtin über Corona, die Vorbildrolle Wiens beim sozialen Wohnungsbau, den „Berliner Mietendeckel“ und eine Pflicht zu Photovoltaik.

The Property Post: Deutschland und insbesondere Berlin hat ein intensives Jahr mit sehr emotionalen politischen Debatten zur Wohnungsfrage hinter sich, an deren Ende nun der "Berliner Mietendeckel" steht. Wie ist Ihr Blick aus Wien auf diese Debatte?
Kathrin Gaál:
Wir verfolgen die Entwicklungen in ganz Europa mit großem Interesse, wenngleich die Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich sind. In Wien ist die Mietsituation eine völlig andere. Mehr als 60 Prozent der Wiener Bevölkerung leben im geförderten Wohnbau. Damit haben wir Steuerungsmöglichkeiten und müssen nicht alles dem Markt überlassen. Es hat Sinn, dass Leistungen der Daseinsvorsorge, zu denen auch der soziale Wohnbau zählt, in öffentlicher Hand bleiben. Aber auch wir stehen vor Herausforderungen. Eine Reform des Mietrechts steht auch in Österreich an, um ein faires und transparentes System zu gewährleisten. Leider wird das auf Bundesebene seit Jahren blockiert.

TPP: Es gibt in Deutschland eigentlich keine einzige Diskussion über das Thema Wohnen, in der Wien und die Wiener Wohnungspolitik nicht als Vorbild genannt werden. Wie empfinden Sie diesen "deutschen Blick" auf den Wiener Wohnbau und diese Rolle als europäisches Vorbild?
KG:
Das freut mich natürlich sehr. In erster Linie aber sehen wir es als Verpflichtung, auch über die Zukunft des geförderten Wohnbaus in Wien und in Europa nachzudenken. Das machen wir im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA_Wien, die sich dem neuen sozialen Wohnen widmet. Es werden Pilotprojekte für ganze Stadtquartiere entwickelt, um sie an die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Wirkungen des Klimawandels anzupassen. So gesehen ist die IBA unser Ticket in die Zukunft des sozialen Wohnbaus und liefert gleichzeitig Antworten auf die aktuellen sozialen und technologischen Herausforderungen, mit denen ganz Europa konfrontiert ist. Deshalb sind wir im Rahmen der von Wien geleiteten EU-Städtepartnerschaft „Wohnen“ auch auf europäischer Ebene sehr aktiv.

TPP: Seit gut einem Jahr ist in Wien die neue Widmungskategorie "Geförderter Wohnbau" in Kraft. Überall, wo Flächen in Wohngebiet umgewandelt werden, sind seither zwei Drittel für den sozialen Wohnbau vorzusehen. Wie fällt Ihre Bilanz nach diesem ersten Jahr der neuen Flächenwidmung aus? Was wurde erreicht, wo gibt es noch Verbesserungsbedarf?
KG:
Diese Maßnahme hat sich bereits als wirksames Instrument zur Schaffung von leistbarem und lebenswertem Wohnraum erwiesen und ist mittlerweile ein fixer Bestandteil im Arsenal der Wohnraumbeschaffung und Stadtentwicklung.

TPP: Kürzlich war von einer Novelle der Wiener Bauordnung zu lesen, die eine "Photovoltaik-Pflicht" für neue Wohngebäude vorsieht. Wie entstand diese Novellierung und welche Effekte erwarten Sie sich davon?
KG:
Wien kämpft seit vielen Jahren erfolgreich gegen den Klimawandel und seine Folgen. Eine wesentliche Rolle dabei spielt die Reduktion von Treibhausgasen im Wiener Wohnbau. Mit der neuen Bauordnungsnovelle wird es künftig kein Wohnhaus mehr ohne Solaranlage geben. Bisher galt die Photovoltaik-Pflicht nur für Industriegebäude. Mit dieser Reform wollen wir Wien optimal auf die Chancen und Herausforderungen des Klimawandels vorbereiten. Die Stadt wird dadurch moderner, klimafreundlicher und zukunftsfitter.

Wie denken Sie, wird Corona den Wohnungsbau verändern? Sie waren selbst von der Krankheit betroffen - müssen wir Wohnbauprojekte nun anders planen, um sie zukünftig "Corona"-fit zu machen?
KG:
Für so eine Einschätzung ist es aus meiner Sicht nun noch zu früh. Aber ich kann Ihnen sagen, wie wir in Wien im Wohnbereich auf Corona reagiert haben. Wir haben die Kriterien für den Bezug von Wohnbeihilfe deutlich vereinfacht. Wir haben Mietern von Geschäftslokalen im Gemeindebau die Miete erlassen. Wiener Wohnen hat Delogierungen ausgesetzt. MieterHilfe und Wohnpartner haben ihren Betrieb auf telefonische Unterstützung umgestellt, was bereits Tausende Wiener genutzt haben. Und das sind nur vier Punkte aus meinem Ressort - der Bürgermeister und die gesamte Stadt haben da insgesamt noch einmal deutlich mehr geleistet. Grundsätzlich ist allen Mietern zu empfehlen, sich im Fall von absehbaren Zahlungsschwierigkeiten möglichst früh an ihren Vermieter zu wenden. Stundungen und Ratenvereinbarungen und Räumungsaufschübe müssen vorab mit dem Vermieter vereinbart werden. Die MieterHilfe Wien steht hier jedem kostenlos mit Rat und Tat zur Seite. Und die MieterHilfe fordert auch zurecht von der Bundesregierung, den verfügten Mietzinsaufschub und Delogierungsstopp unbedingt zu verlängern - bis absehbar ist, dass die Corona-Krise und ihre Folgen wirklich ausgestanden sind. Wiener Wohnen ist hier mit gutem Beispiel vorangegangen. (Anm.: Wiener Wohnen ist der Name der kommunalen Hausverwaltung, zuständig für den Gemeindebaubestand)

TPP: Beim klassischen Wiener Gemeindebau denkt man in erster Linie an die Wohnungsmieter, aber Sie haben in Wien auch sehr viele Gewerbemieter in den Gemeindebauten. Wie hat Wien in der Corona-Krise reagiert, um den Gewerbemietern zu helfen?
KG:
Wir haben auch hier sehr rasch in den Krisen-Modus umgeschaltet und Wiener Wohnen hat den Mieterinnen und Mietern von Geschäftslokalen im Gemeindebau die Miete erlassen.

TPP: In Österreich gab es zu Beginn der Corona-Epidemie sogar - anders als z.B. in Deutschland – kurzzeitig einen Defacto-Baustopp. Private Projektentwickler beklagten, dass auch nach Aufhebung des Baustopps wenig auf Österreichs Baustellen weiterging, da Beamte im Homeoffice nicht handlungsfähig waren. Die Tageszeitung KURIER titelte daraufhin: Keine Laptops, keine Server: Stillstand bei Baubehörden. Was entgegnen Sie den privaten Bauträgern?
KG:
Wir hatten einen durchgängigen Betrieb. Die meisten Baubewilligungsverfahren sind normal abgewickelt worden. Verzögerungen gab es lediglich bei einem geringen Teil der Bauvorhaben mit erforderlichen Bauverhandlungen, die durch das notwendige persönliche Erscheinen während des Shutdowns nicht stattfinden konnten.

TPP: Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Michael Lippitsch von RUECKERCONSULT für The Property Post

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von Kathrin Gaál, Amtsführende Stadträtin für Wohnen, Wohnbau, Stadterneuerung und Frauen der Stadt Wien
Erstveröffentlichung: The Property Post, Juni 2020

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