Perspektiven des Lebensmitteleinzelhandels angesichts von COVID-19 und Wettbewerb durch den Onlinehandel
Susanne Klaußner MRICS ist seit 35 Jahren in der Immobilienwirtschaft tätig und gilt als eine der führenden Expertinnen für Einzelhandelsimmobilien im Segment Fachmärkte und Fachmarktzentren. Im Dezember 2019 übernahm sie die Geschäftsführung der DIR Deutsche Investment Retail GmbH.
The Property Post: Frau Klaußner, mit der DIR Deutsche Investment Retail fokussieren Sie sich ganz auf den Bereich Food Retail. Was ist darunter genau zu verstehen, und warum ist dieses Segment so interessant?
Susanne Klaußner: Unter Food Retail verstehen wir den Lebensmitteleinzelhandel. In der Praxis umfasst dieses Segment alle Einzelhandelsimmobilien, die entweder ausschließlich Supermärkte oder Discounter beherbergen oder bei denen Lebensmittel das mit Abstand dominierende Segment sind: zum Beispiel in Nahversorgungs- und Fachmarktzentren, bei denen es neben dem Ankermieter aus dem Lebensmittelbereich noch einen Drogisten, eine Apotheke, Fachmarktfilialisten wie KiK oder Schuhdiscounter, und vielleicht noch einen Imbiss, einen Schlüsseldienst und ein Blumengeschäft gibt. Aus Investorensicht ist das Segment Food Retail vor allem deshalb interessant, weil die Konkurrenz durch den Onlinehandel bei weitem nicht so stark ist wie etwa bei Büchern, Elektronik oder Mode.
TPP: Durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren Geschäfte im Non-Food-Segment wochenlang geschlossen, und Umsätze in diesem Bereich fanden fast nur noch online statt. Auch im Lebensmittelbereich konnten wir einen Aufschwung des Onlinehandels beobachten. Wird dieser Trend anhalten?
S. K.: Die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate müssen wir sehr differenziert betrachten. Zum einen hatten und haben wir Effekte, die stark durch den exogenen Schock geprägt waren, den die Corona-Pandemie und der Lockdown ausgelöst haben und sich inzwischen zum Teil schon wieder deutlich abschwächen. Zum anderen gibt es aber sicherlich auch langfristige Veränderungen bei den Kaufgewohnheiten von Verbrauchern. Wenn Sie an Eltern im Homeoffice denken, die mit ihren Kindern nicht einkaufen gehen dürfen und versuchen, Job und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen, oder an Senioren, die das Haus nicht verlassen sollen, dann ist es logisch, dass diese Käufergruppen in dieser Situation verstärkt online bestellen. Das ist allerdings eine Ausnahmesituation. Und alle Online-Besteller eint, dass sie dennoch ebenso regelmäßig im Laden einkaufen oder einkaufen lassen. Zudem haben sie in den vergangenen Wochen oft die Erfahrung machen müssen, dass Online-Lieferungen aufgrund von Überlastung mit langen Wartezeiten verbunden oder sogar zeitweise gar nicht möglich waren. Die Coronakrise hat gezeigt, dass gerade der Lebensmitteleinzelhandel eine so zentrale Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung spielt, dass man die Geschäfte weiter offenlassen musste – im Gegensatz zu Läden des aperiodischen Bedarfs, die ihren Betrieb für mehrere Wochen komplett einstellen mussten. Der eine oder andere neu gewonnene Kunde von Lieferdiensten wird sich sicherlich auch weiterhin Getränke oder andere Lebensmittel nach Hause liefern lassen. Das ist jedoch kein neues Phänomen, weil es Getränke- oder Lebensmittellieferservices schon seit mindestens 50 Jahren gibt, und es wird den Gang in den Supermarkt nicht ersetzen. Bei der Analyse der Marktdaten müssen wir aber gerade im aktuellen Umfeld sehr genau hinsehen, um keine vorschnellen und womöglich falschen Schlüsse zu ziehen.
TPP: Wie meinen Sie das? Wo sehen Sie die Gefahr von Fehlschlüssen?
S. K.: Die statistischen Marktdaten kommen ja immer mit einer gewissen Zeitverzögerung an, und gerade in einer Situation wie jetzt, die stark durch eine Schock-Ereignis geprägt ist, müssen wir bei der Interpretation besonders vorsichtig sein. Es stimmt zwar, dass in den vergangenen Wochen einige Umsätze aus dem stationären Bereich in den Online-Handel verlagert wurden, wenn die betreffenden Läden geschlossen oder bestimmte Artikel im stationären Handel ausverkauft waren. Aber trotzdem gab es beim Umsatz des Onlinehandels in Deutschland im ersten Quartal eine deutliche Abschwächung gegenüber den Vorjahren. Im Vorjahresvergleich war der Zuwachs so gering, dass er faktisch einer Stagnation gleichkam, und um März gab es gegenüber dem Vorjahr sogar einen Einbruch um rund 20 Prozent. Hier wurden verstärkte Onlinebestellungen in einigen Bereichen offenbar durch eine allgemeine Kaufzurückhaltung überkompensiert, die ja angesichts der Verunsicherung vieler Verbraucher über die Zukunft ihrer Jobs und die Entwicklung ihrer Einkünfte auch verständlich ist. Für April haben wir noch keine Umsatzzahlen, aber das GfK-Konsumklima fiel in diesem Monat auf einen historischen Tiefststand, von dem es sich im Mai schon wieder etwas erholt hat. Es wird also viel davon abhängen, wie sich die Konjunktur und das Verbrauchervertrauen in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln.
TPP: Lassen dabei eventuell schon bestimmte Trends erkennen, in welche Richtung die Entwicklung gehen wird?
S. K.: Der stationäre Lebensmitteleinzelhandel wird in jedem Fall auch künftig eine zentrale Rolle spielen. Dessen Bedeutung hat sich in der Krise deutlich gezeigt, und gleichzeitig ist klar geworden, dass Onlinebestellungen und Lieferservices den stationären Lebensmitteleinzelhandel allenfalls in begrenztem Maße und auch nur in bestimmten, dicht besiedelten Gebieten ersetzen können. Dazu kommt, dass Lebensmittelkäufe nicht verschoben werden können wie etwa die Anschaffung von Möbeln oder größeren Elektrogeräten. Und interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass mit den Rentnern eine der wichtigsten Kernzielgruppen des stationären Lebensmitteleinzelhandels derzeit am wenigsten von der allgemeinen Verunsicherung betroffen ist. Sie brauchen sich um ihre Einkünfte keine Sorgen zu machen und können ab Juli sogar mit einer Erhöhung von mehr als drei Prozent rechnen. Das ist deutlich oberhalb der Inflationsrate, sodass es hier zu einem realen Kaufkraftzuwachs kommt.
TPP: Was macht das stationäre Einkaufserlebnis aus Ihrer Sicht unverzichtbar?
S. K.: Gerade für ältere Menschen ist der tägliche Einkauf in normalen Zeiten ein wichtiger Fixpunkt in ihrem Tagesablauf und Gelegenheit, Nachbarn oder Bekannte zu treffen. Hinzu kommen emotionale und sinnliche Komponenten: Es ist einfach etwas anderes, sich die frischen Kräuter am Gemüsestand oder das Steak an der Fleischtheke selbst auszusuchen, als anhand eines Bildchens auf dem Monitor zu bestellen. Zudem hat sich in der Coronakrise gezeigt, dass die Lieferdienste bei einer stärkeren Nachfrage schnell an ihre Kapazitätsgrenzen kommen, sich Lieferzeiten deutlich verlängern und die Terminfindung schwieriger wird. Das sind Probleme, die sich kurzfristig nicht abbauen lassen und dem stationären Lebensmitteleinzelhandel auch deshalb langfristig seinen Platz sichern, weil „click und collect“ – also etwas online bestellen und im Laden, aktuell berührungslos, abholen – wieder stärker in den Fokus rückt. Das spart Zeit und die Liefergebühren.
TPP: Deutsche Investment hat gerade ihren ersten Fonds im Segment Food Retail aufgelegt. Beeinflusst die aktuelle Situation Ihre Investmentstrategie?
S. K.: Von entscheidender Bedeutung ist die Zusammensetzung des Mietermixes: Unser Investmentfokus sah von Anfang an vor, dass je Standort min. 65 bis 70 % der Mieteinnahmen aus der Grundversorgung kommen. In diesem Segment haben die Marktteilnehmer ihre Krisenresistenz bis dato unter Beweis gestellt. Die Umsätze im Februar und März 2020 sind deutlich gestiegen und ich gehe davon aus, dass auch die Gesamtumsätze für dieses Jahr trotz einer wahrscheinlichen leichten Abschwächung im zweiten Halbjahr mit einer stabilen Entwicklung abschließen. Daher fühlen wir uns mit diesem Investmentfokus auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gut aufgestellt.
TPP: Frau Klaußner, vielen Dank für das Gespräch.
Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von DIR Deutsche Investment Retail
Erstveröffentlichung: The Property Post, Mai 2020