Wie können ESG-Kriterien quantifiziert werden?
TPP: Herr Ostaschov, Sie wollen die Nachhaltigkeit von Immobilieninvestitionen umfassend messbar machen. Was treibt Sie an?
Juri Ostaschov: Wenn institutionelle Investoren Immobilien erwerben, dann wollen sie mit ihrem Engagement einen bestimmten Ertrag erzielen. Die ESG-Kriterien sind dabei eine mit vielen Einzelaspekten gespickte zusätzliche Anforderung, zu deren Ergebniswirkung es allerdings nur wenige Erfahrungswerte gibt. Das betrifft insbesondere jene Kriterien, die unter den Buchstaben S wie Social und G wie Governance gefasst werden. Darauf zielt unser Beratungsansatz. Ausgehend von der Tatsache, dass die Paramater ökologischer Nachhaltigkeit (E) bereits umfassend definiert, quantifiziert und messbar sind, versuchen wir Kennzahlen für die anderen Bereiche zu ermitteln und mittels Modelrechnungen herauszufinden, welche Investitionen in Social und Governance sich rechnen. Dabei dehnen wir den Bereich der Governance bewusst über den Bereich der nachhaltigen und transparenten Betriebsführung aus und fragen auch nach den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen nachhaltiger Immobilieninvestments.
TPP: Wie wollen Sie den Einfluss politischer Faktoren auf die Wertentwicklung einer Immobilieninvestition messbar machen?
JO: Nun, wir wissen, dass politische Unsicherheit ein wichtiges Kriterium bei Investitionsentscheidungen ist und Stabilität von den Marktteilnehmern in der Regel belohnt wird. Wir fragen also nach den Rahmenbedingungen stabiler Demokratien auf nationaler wie kommunaler Ebene. Dabei geht es um Partizipation, Wahlbeteiligung und Wählerverhalten. Das sind Indikatoren, über die sich Aussagen zur Akzeptanz der demokratischen Ordnung ableiten lassen. In Ländern oder Kommunen mit einer niedrigen Wahlbeteiligung ist die Akzeptanz der Demokratie und staatlicher Institutionen gering ausgeprägt, die Regionen sind damit anfällig für populistische Parteien, deren Dominanz sich wiederum auf Investitionsentscheidungen und die wirtschaftliche Entwicklung auswirken kann. Im schlimmsten Fall droht ein Niedergang mit negativen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreisentwicklung in einer Region. Dem gegenüber erweisen sich Regionen mit einer hohen Akzeptanz von staatlichen Institutionen und hoher Wahlbeteiligung in der Regel als politisch stabil mit positiven Implikationen für die Wertentwicklung einer Immobilie.
TPP: Wie gehen Sie mit der Herausforderung um, dass das Feld sozialer Nachhaltigkeit nicht hinreichend spezifiziert ist und teils heftig darüber gestritten wird, was als sozial angesehen werden kann?
JO: Unsere Aufgabe ist, komplexe und unendlich variable Zusammenhänge in endlich viele objektive Parameter zu transformieren. Um das Potenzial unserer Analysen vollends entfalten zu können, sind wir dabei auf konkrete Fragestellungen angewiesen, die wir mit unseren Kunden entwickeln. Im größeren Kreis wollen wir dazu auf der diesjährigen Expo Real einladen. Aber es gibt natürlich bereits ein erstes Gerüst. Als sozial nachhaltig gelten bekanntermaßen Projektentwicklungen, die angemessen die Bedarfe eines Gemeinwesens berücksichtigen. Große Wohnungen sollen dort entstehen, wo bereits Familien leben oder hinziehen und kleine Wohnungen sind sozial, wenn es in einem Gebiet einen deutlichen Trend zur Versingelung gibt. Sozial nachhaltig ist es auch, wenn die Neubevölkerung dann auf eine bereits vorhandene Infrastruktur trifft – oder diese zeitnah errichtet wird. Günstige Wohnungen gelten per se als sozial nachhaltig. Ob sie es dann auch im ökonomischen oder ökologischen Sinn sind, wäre eine weitere Fragestellung. Denn zweifelsohne sind der Wohnflächenverbrauch und die Flächenversieglung in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen und die sozial nachhaltige Entwicklung eines Quartierts wird auch über die Segmentierung des Wohnungsangebotes gesteuert.
TPP: Glauben Sie, dass Nachhaltigkeit zu einer Rechenaufgabe werden kann?
JO: Es soll ja Menschen geben, die sich vor Mathematik fürchten. Aber Berechenbarkeit heißt ja auch Verlässlichkeit und das ist angesichts der Unwägbarkeiten in vielen Entscheidungsprozessen doch eher Chance als ein Risiko. Wir stehen allerdings erst am Beginn einer längeren Entwicklung, bei der die Möglichkeiten von KI eine maßgebliche Rolle spielen werden. Die ESG-Kriterien waren am Anfang ein Katalog von qualitativen Anforderungen – gedacht, um möglichst viel Kapital in klimagerechte Anlagen zu leiten. Bis auch das letzte Nachhaltigkeitskriterium hinreichend quantifiziert ist, ist es ein langer Weg, falls überhaupt ein Ende in diesem Prozess denkbar ist.
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Erstveröffentlichung: The Property Post, September 2022