Nachhaltigkeit in der Bauwirtschaft
Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, ist davon überzeugt, dass Nachhaltigkeit in der Bauwirtschaft sehr wichtig für die Gesellschaft ist. Im Gespräch mit concepts-Chefredakteur Thorsten Meise fordert der Architekt und Stadtplaner den Einsatz digitaler Technologien, neue Planungsprozesse und mehr Engagement für qualitativ gute Gestaltung.
Herr Nagel, was macht eine Stiftung zum Thema „Baukultur“? Es klingt ein wenig nach Denkmalpflege.
Reiner Nagel: Viele Menschen verbinden den Begriff Baukultur tatsächlich allein mit ästhetischen Fragen, mit alten Gebäuden und Denkmalpflege. Das gehört natürlich auch dazu, ist aber nur ein Teil unserer Arbeit. Generell kann man sagen: Wir wollen die Qualität der gebauten Umwelt voranbringen. Dafür betrachten wir den gesamten Teil des Planens und Bauens, auch Technologien und Planungsprozesse. Das Ziel der Stiftung ist es, die Qualität des Planens und Bauens in Deutschland zu thematisieren, Akteure zusammenzubringen und für Unterstützung zu werben. Das ist nicht zuletzt auch ein Standortthema für Deutschland, denn qualitätsvolle Ingenieurbaukunst zu planen und zu errichten ist immer noch eine unserer Stärken.
Ist auch Nachhaltigkeit ein Aspekt von Baukultur?
Nagel: Ja, auf jeden Fall. Baukultur ist die Summe der Leistungen, die der Mensch aufbringt, um die Umwelt aktiv zu gestalten. Das betrifft alle gebauten Orte, auch Kulturlandschaften. Baukultur ist für uns deshalb durchaus ein Synonym für Nachhaltigkeit. Sie umfasst aber nicht nur ökologische Aspekte, sondern ist umfassender definiert. Baukulturelle Nachhaltigkeit beinhaltet auch das Ergebnis gestalteter Räume und den Prozess, also die Frage, wie kommt man dahin?
Sie verfolgen also eher einen ganzheitlichen Begriff von Nachhaltigkeit?
Nagel: Wir stehen für eine systemische Betrachtungsweise. Ein Beispiel: Ein Hochregallager auf der grünen Wiese, für einen großen Versandhändler, kann als Gebäude durchaus unter Nachhaltigkeitsaspekten geplant, gebaut und zertifiziert sein. Und doch kann es als räumlicher Monolith ein unverdauliches Element in der Landschaft darstellen. Es wird auch mit Blick auf den Erhalt unserer städtischen Strukturen mit ihren Einkaufsmöglichkeiten nicht nachhaltig sein.
Wie wichtig ist Nachhaltigkeit im Bereich Planen und Bauen für die Gesellschaft? Immerhin werden rund zehn Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts für Baumaßnahmen verwendet, etwa 370 Milliarden Euro.
Nagel: Wenn man die Immobilienwirtschaft dazurechnet, liegt das Volumen sogar bei 540 Milliarden. Das ist vielen tatsächlich nicht bewusst. Wir reden alleine in Deutschland von vier Millionen Akteuren rund ums Bauen, von den Planern über die Bauträger bis zur Baustoffindustrie und dem Baugewerbe. Das sind etwa fünf Mal so viele wie in der Automobilindustrie.
Die viel mehr im Fokus der Öffentlichkeit steht.
Nagel: Richtig. Weil die Baubranche viel kleinteiliger strukturiert ist, schafft sie es im Vergleich zu den großen Automobilkonzernen nicht annähernd so gut, sich bemerkbar zu machen. Ich habe noch eine weitere Zahl: 84 Prozent unseres Volksvermögens stecken in Immobilien. Auch Renten und Aktien sind zu einem bedeutenden Teil in Immobilienwerten gebunden. Baukultur, und damit auch Nachhaltigkeit in diesem Bereich, geht uns deshalb alle an und kann eine große gesellschaftliche Wirkung erzielen, wenn sie umgesetzt wird.
Müssen wir noch stärker auf nachhaltige Zertifizierungssysteme zurückgreifen?
Nagel: Zertifizierungen bilden zunächst ökologische Bilanzierungsrechnungen ab. Wir können aber nicht nur Checklisten führen, sondern müssen auch emotional überzeugende, schöne Gebäude errichten. Geist und Maß, Sinn und Form müssen zusammenkommen, sonst endet das in Gestaltungsarmut. Die Gestaltqualität spielt eine wichtige Rolle. Die DGNB (Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen) hat für Objekte, die auch gestalterisch überzeugen, zum Beispiel den Diamanten für Gestaltung und Baukultur als Auszeichnung entwickelt.
Kann bzw. sollte die Digitalisierung des Baugewerbes auch zum Treiber von Nachhaltigkeit werden?
Nagel: Digitalisierung kann Nachhaltigkeit im besten Sinne befördern und muss zwingend kompatibel gemacht werden mit Baukultur. Digitalisierung hat dabei viele Gesichter, sie kann Low-Tech-Gebäude ermöglichen, Prozesse optimieren, die Betrachtung von Lebenszyklen erleichtern. Wir können beispielsweise Cradle-to-Cradle-Konzepte besser umsetzen oder bekommen Aufschluss über die CO2-Konsequenzen des Bauens. Beim Thema energetische Optimierung können wir dann stärker an CO2-Neutralität denken, nicht nur an Wärmekoeffizienten. Und Digitalisierung ist schließlich auch die Chance, Gebäude technisch so zu optimieren, dass Baustoffe gespart werden können oder das Zusammenwirken von Konstruktion und Materialien verbessert wird.
Benötigen wir dafür auch andere Planungsmodelle, die alle Beteiligten früher an einen Tisch bringen, um Ziele eines Projektes abzustimmen und besser umzusetzen?
Nagel: Auf jeden Fall. Dank Building Information Modeling (BIM) beispielsweise lässt sich heute ja schon frühzeitig erkennen, wie ein Bauwerk einmal aussehen wird. Das war bislang erst recht spät im Planungsprozess möglich – und dann steht da plötzlich eine ziemlich klobige Brücke. Das lässt sich jetzt vermeiden. Im digitalisierten Prozess kann man auf Knopfdruck eine Simulation erstellen – und alle Akteure können anhand dessen ins Gespräch kommen, auch Laien. Verändern wird sich auch das System der Trennung von Planung und Ausführung, das für Architekten und Ingenieure maßgeblich ist. Da werden wir zu anderen Compliance-Regeln kommen müssen. Wir arbeiten gerade an einem „Kodex Baukultur“ für die Immobilienwirtschaft, wo wir die gesellschaftliche Verantwortung in den Mittelpunkt rücken. Diese Diskussion muss jetzt geführt werden, denn die Realität ändert sich hier rasant.
Zur Person: Reiner Nagel
Der Architekt und Stadtplaner hat in Hamburg und Berlin an wichtigen städtebaulichen Entwicklungsvorhaben und Konzepten mitgearbeitet, ist Lehrbeauftragter an der TU Berlin im Bereich Urban Design, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und außerordentliches Mitglied des Bundes Deutscher Architekten. Seit 2013 ist er Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur.
Bundesstiftung Baukultur
Seit 2007 tritt die Bundesstiftung Baukultur mit Sitz in Potsdam als unabhängige Einrichtung für Baukultur ein. Ihr Ziel ist es, die Öffentlichkeit für das Thema Baukultur zu sensibilisieren, unter Bauschaffenden eine breit angelegte Qualitätsdebatte über Baukultur zu initiieren, das Thema Baukultur in den Kommunen und Ländern zu intensivieren und international für die Qualitäten deutscher Baukultur zu werben. Alle zwei Jahre legt die Stiftung der Bundesregierung einen Baukulturbericht mit Handlungsempfehlungen vor. Im Förderverein der Stiftung sind 1500 Mitglieder engagiert, darunter auch zahlreiche Unternehmen wie HOCHTIEF.
Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von concepts
Erstveröffentlichung: concepts by Hochtief, 2020