Wer profitiert von autofreien Innenstädten?
Kaum nimmt die Kraft der Sonne zu, erwacht die Diskussion um autofreie Quartiere und Freiflächen auf öffentlichen Straßen. Lebenswert statt autogerecht solle die Stadt werden, heißt es von Grünen und linken Politikern, während sich FDP und CDU tendenziell als Parteien der Autofahrer positionieren. Angesichts dieser Aufstellung wird leicht übersehen, dass vor allem einkommensstärkere Bevölkerungsschichten von Vorzügen verkehrsberuhigter Innenstädte profitieren, ohne von deren Nachteilen betroffen zu sein.
Denn es sind ja vor allem die besserverdienenden Akademiker, die sich Wohnungen in den Innenstädten leisten können und wollen, auch weil ihr Arbeitsplatz das zentral gelegene Büro eines Unternehmens, einer Agentur oder einer staatlichen Institution ist – und sie die kurzen Wege dahin mühelos mit dem Fahrrad bewältigen können. Diese Klientel braucht kaum großflächigen Lebensmitteleinzelhandel und hat für den wöchentlichen Einkauf den Wagen in einer Tiefgarage stehen – oder lässt gleich alles liefern. Sie profitiert von möglichen Spezialitätengeschäften, Restaurants, konsumiert regelmäßig Kultur in jeglicher Form und genießt die steigende Lebensqualität in den Städten.
Eine Verkehrswende hin zum Fahrrad fördert somit die Konzentration einkommensstarker Haushalte in einem innerstädtischen Gebiet, was wiederum zu überdurchschnittlich steigenden Mieten und Wohnungspreisen führt. Weniger leistungsfähige Bevölkerungsschichten werden sich dagegen bei forcierter Verkehrsberuhigung auf weitere Wege einstellen müssen. Sie kommen aufgrund von Mobilitätsbeschränkungen auch seltener in die Innenstadt und partizipieren weniger am urbanen Leben.
Die daraus resultierende Suburbanisierung wird begünstigt von Ansiedlungen großflächigen Einzelhandels in den Gewerbeparks von Umlandgemeinden – mit entsprechender Erhöhung des Verkehrsaufkommen. Weil der Handel durch die Einschränkung von Lieferverkehren beeinträchtigt wird und größere Käuferschichten im Umland wohnen, verlassen die Einzelhandelsunternehmen die Innenstadt, weshalb dort dann weniger statt mehr Menschen anzutreffen sind. Dieser Trend lässt sich bereits heute in Oslo beobachten.
Wer heute Zufahrtsbeschränkungen und autofreie Innenstädte fordert, sollte daher umfangreiche Modellrechnungen anstellen, welche nicht intendierten Folgen dies für die weitere Entwicklung haben könnte und das Vorhaben gegebenenfalls in eine fernere Zukunft rücken. Denn die Formel "Aus den Augen, aus dem Sinn" mag vielleicht dem bürgerlichen Wohlempfinden besserverdienender Akademiker dienen. Eine Verbesserung des Lebensstandards für alle und einen nachhaltigen Klimaschutz bietet die autofreie Stadt in dieser Form nicht.
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Erstveröffentlichung: Immobilien Zeitung, Juni 2022