31.03.2016

Die Mär von der Bürgerbeteiligung

Ein Plädoyer für bessere Partizipation

Dr. Marc Weinstock, ZIA-Präsidiumsmitglied und Geschäftsführer, DSK | BIG BAU-Unternehmensgruppe
Dr. Marc Weinstock

„Bringt mehr Bürgerbeteiligung auch ein Mehr an dringend benötigten Wohnungsbau – oder geht es am Ende vielen Engagierten doch eher um Partikularinteressen?“

In vielen deutschen Großstädten sind die Mieten und die Preise für Immobilien in den letzten Jahren teilweise stark gestiegen. Die Bürger, die die höheren Mieten und Kaufpreise bezahlen müssen, spüren diesen Trend ohnehin schon sehr deutlich. Auch Politik und Verwaltungen haben das Problem längst erkannt und versuchen darauf zu reagieren. Die Forderung nach der Schaffung zusätzlichen Wohnraums scheint daher allgemeiner Konsens zu sein.

Der Druck auf die Wohnungsmärkte der deutschen Metropolen nimmt weiter zu. Die Ursachen sind zum einen in einer deutlich gestiegenen Anzahl von Einwanderern und zum anderen dem starken Trend zur Reurbanisierung – also dem Trend zurück in Stadt – geschuldet.

Auch die Umlandgemeinden in den Metropolregionen spüren den Druck weiter steigender Nachfrage nach Wohnraum. Aber auch dort ist eine Ausweisung von neuem Bauland komplizierter geworden. Durch das Ziel der Bundesregierung den Flächenverbrauch deutlich zu reduzieren und vorrangig Flächen in bestehenden Siedlungsstrukturen zu entwickeln, ist eine Verlagerung neuen Wohnraumes auf die „Grüne Wiese“ nur ein Teil der Antwort auf den steigenden Bedarf. Da innerhalb von Städten kein unerschöpfliches Platzangebot zur Verfügung steht, gibt es verschiedene Strategien, wie man dort mehr Wohnraum schaffen kann. Neben der Umnutzung alter Industrieflächen, der Bebauung nicht mehr genutzter Bahnflächen und der verstärkten Entwicklung von Kleinflächen bietet langfristig die Nachverdichtung das größte Potenzial. Durch eine solche Innenverdichtung steigt automatisch die Zahl der „Betroffenen“ in unmittelbarer Nähe zu neuen Wohnbauvorhaben.

Konflikte entstehen dort, wo bereits viele Menschen leben und künftig noch mehr Menschen leben sollen. Diese Konflikte im Vorfeld zu analysieren, ist häufig ein schwieriges Unterfangen, weil die Interessenlagen extrem unterschiedlich sein können. Das Ziel aller Akteure, die sich um die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum bemühen, muss daher sein, diese Konflikte möglichst einvernehmlich zu lösen. In diesem Zusammenhang wird die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung laut. Aber kann mehr Bürgerbeteiligung hier wirklich helfen?

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren bundesweit sehr zugunsten von direktdemokratischen Verfahren verbessert und die öffentliche Aufmerksamkeit für direkte Beteiligungsprozesse hat deutlich zugenommen. In immer mehr Verwaltungen und bei den vielen Investoren hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Projekte mit der „Brechstange“ gegen einen Bürgerwillen zu realisieren, viel Zeit, Geld und Prestige kosten. Die verstärkte Einbeziehung der Bürger – gerade in sensiblen Fragen der Stadtentwicklung – ist längst allseits akzeptierte gesellschaftliche Realität geworden. Wenn über ein Mehr an Bürgerbeteiligung diskutiert werden soll, muss zunächst klar sein, was gemeint ist. Der Begriff wird für eine ganze Bandbreite verschiedener Inhalte von der im Baugesetzbuch geregelten „Frühzeitigen Bürgerbeteiligung“ über informelle Dialogverfahren bis hin zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden oder sogar Volksentscheiden benutzt. Je nach Bundesland sind sehr unterschiedliche Regelungen zur Bürgerbeteiligung gesetzlich verankert. In den kommenden Jahren ist aus bereits genannten Gründen eine Zunahme von Bürgerbegehren und -entscheiden zu immobilienwirtschaftlichen Themen zu erwarten.

Bürgerbeteiligungsverfahren können und müssen aber als Ergänzung zur etablierten politischen Entscheidungsfindung fungieren und können diese nicht ersetzen. Künftig potenziell über alle Fragen aus dem Themengebiet der Stadtentwicklung im Rahmen von Bürgerbegehren oder Bürgerentscheiden abstimmen zu lassen, ist schlichtweg utopisch und würde das Prinzip der repräsentativen Demokratie aushebeln. Davon abgesehen, ist stark zu bezweifeln, dass eine solche Vorgehensweise zu besseren Ergebnissen für die Allgemeinheit führen würde.

Nach den Untersuchungen des Göttinger Politikwissenschaftlers Franz Walter gibt es eine weitere Verzerrung, die durch Bürgerentscheide und Bürgerbegehren auftreten kann: Die Gruppe der engagierten Bürger ist homogener als man annehmen mag. Sie sind überdurchschnittlich gebildet, mittleren Alters, vorwiegend männlich und mit eher hohem Einkommen ausgestattet. Darüber hinaus verfügen sie über weitere wichtige Ressourcen, wie Netzwerke und viel Zeit. Somit ist zumindest nicht auszuschließen, dass sich eine solche Gruppe für Ziele einsetzt, die nicht allen, sondern nur bestimmten ohnehin schon privilegierten Bürgern zu Gute kommt.

Zu Recht herrscht auch gegenüber der Politik eine Erwartungshaltung, sich den Problemen von knappen Wohnraum und steigenden Mieten in Ballungsräumen anzunehmen und für diese eine Lösungen zu finden. Eine solche Erwartung setzt aber voraus, dass der Politik auch ein entsprechender Handlungsspielraum zusteht, gefundene Lösungen umzusetzen. Überall wo innerstädtische Nachverdichtung stattfinden soll, ist verstärkt mit dem Protest oder der Ablehnung der dort bereits lebenden Menschen zu rechnen. Als prominente Beispiele hierfür ist die „neue Mitte Altona“ in Hamburg oder auch die Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof in Berlin zu benennen. Was dort an Widerstand praktiziert wurde, erleben heutzutage viele Projektentwickler auch in weniger prominenten Projekten. Das berechtigte Interesse der Anwohner, im Rahmen entsprechender Wohnungsbauprojekte beteiligt zu werden, ist nachvollziehbar. Gleichzeitig muss aber auch gewährleistet sein, dass sich hinter der Forderung nach mehr Beteiligung nicht eigentlich der geharnischte Wunsch nach neuen Verschleppungs- oder gar Verhinderungsmöglichkeiten verbirgt, die einzig auf Partikularinteressen beruhen. Anwohner eines geplanten Standorts für neue Wohnungen verfügen bereits über eine Wohnung und nutzen die vorhandene Infrastruktur ihres Stadtteils. Weshalb sollten sie sich also für zusätzlichen Wohnraum mit allen damit für sie verbundenen Nachteilen (vollere Straßen, weniger Parkplätze, weniger Grünflächen etc.) in ihrer Umgebung aussprechen? Macht es vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis Sinn, eben dieser Gruppe die Entscheidung zu überlassen? Ein Projekt abzulehnen fällt insofern leicht, als dass man als Gegner eben nicht die Pflicht hat, alternative Wege zur Lösung der Wohnraumproblematik aufzuzeigen. Und die Lösung läge dann – gemäß des St. Florian Prinzips – woanders, nur nicht vor der eigenen Haustür.

Letztlich ist es Auftrag und Pflicht der Politik sowie der Verwaltungen Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls zu treffen. Solche Entscheidungen müssen auch gegen den Willen oder die Interessen Einzelner möglich sein. Zusätzlich zur guten Praxis von repräsentativdemokratisch zustande gekommenen Entscheidungen haben alle Akteure Anspruch auf die Wahrnehmung ihrer Rechte. Neben dem betroffenen Bürger hat natürlich auch ein Grundstückseigentümer und Projektentwickler Rechte und vor allem einen Anspruch auf Rechtssicherheit. Der Appell an Politik und Verwaltung ist, hier mutiger zu sein und klare Positionen zu vertreten auch wenn diese bei den betroffenen Anwohnern unpopulär sind. Denn sie müssen letztlich den Weg für ausreichend Wohnraum ebnen und auch die Interessen derjenigen vertreten, die auf der Suche nach Wohnraum sind.

Inwieweit ein Konflikt aus Sicht der beteiligten Akteure zur Zufriedenheit dieser gelöst werden kann, hängt nicht unbedingt von den gesetzlichen Rahmenbedingungen ab.

Gerade in einer Zeit, in der die klassischen Konfliktlinien an Bedeutung verlieren, sind einfache und holzschnittartige Unterteilungen in Gut und Böse, Verwaltung und Investor oder Bürger und Politik über Bord zu werfen. Nicht jeder Investor ist nur auf Luxussanierung und maximale Gewinne aus, nicht jeder Bürger engagiert sich nur, um für seine Partikularinteressen zu kämpfen. Politik und Verwaltung sind nicht nur wahlweise Handlanger der Wirtschaft oder wählerhörige Opportunisten. Eine vorurteilsbehaftete Wertung der einzelnen Standpunkte schadet von vornherein der Debatte und lädt diese emotional auf, statt sachliche Argumente in den Vordergrund zu rücken. Dabei gibt es auf jeder Seite rationale Gründe für die jeweiligen Positionen. Diese Argumente müssen öffentlich dargelegt und diskutiert werden können.

Deshalb ist es wichtig, die Formen von Bürgerbeteiligung zu stärken, die von vorherein auf transparenten Dialog setzen statt auf Konfrontation. Eine gute Bürgerbeteiligung braucht daher zuallererst die Wahrhaftigkeit aller Beteiligten. Ein Projektentwickler tut gut daran, möglichst umfassend vor Beginn des Projekts darüber zu informieren. Leider zeigt die Praxis – trotz des Trends hin zu mehr Bürgerbeteiligung – das einige Entscheidungsträgern die offensive und proaktive Information der Öffentlichkeit immer noch für entbehrlich halten. Dabei spielen unterschiedliche Gründe eine Rolle: Während die einen aus der festen Überzeugung heraus handeln, juristisch auf der sicheren Seite zu sein, scheuen die anderen die mit einer Bürgerbeteiligung verbundenen Kosten oder die Aufmerksamkeit an einer Stelle, wo sie lieber geräuschlos „im Hinterzimmer“ agieren wollen. Sicher gibt es immer wieder Fälle, wo dieses Kalkül funktioniert und ein Projekt reibungslos umgesetzt werden kann; andererseits sind auch zahlreiche Vorhaben gescheitert oder sehr teuer geworden, weil man gar nicht oder zu spät auf transparente Information und Beteiligung gesetzt hat. Projekte und alle Akteure profitieren in der Regel von einer frühzeitigen, transparenten und ehrlichen Bürgerbeteiligung. Dem Aspekt der Transparenz kommt eine besonders große Bedeutung zu. Nichts macht eine Kompromissfindung schwieriger als Misstrauen und das Gefühl, belogen zu werden. Erfolgreiche Bürgerbeteiligung kann dann gelingen, wenn ein Projekt von Beginn an öffentlich kommuniziert wird. Dazu gehört maximale Transparenz und vor allem auch die Bereitschaft über Dinge zu sprechen, die nicht unbedingt hundertprozentig „nach Plan“ laufen. Ist das Vertrauen einmal zerstört, stehen alle danach gemachten Aussagen unter Generalverdacht. Die Verlässlichkeit in der Kommunikation ist einer der wichtigsten Faktoren sinnvoller Bürgerbeteiligung. Dazu gehört, von vornherein die Möglichkeiten tatsächlicher Einflussnahme zu benennen, aber auch deren Grenzen zu thematisieren.

Das Ergebnis, das am Ende eines solchen Verfahrens steht, wird erfahrungsgemäß sehr unterschiedlich beurteilt und zwar je nachdem, welchen Interessen am ehesten Rechnung getragen wurde. Die Annahme, nach der mehr Bürgerbeteiligung grundsätzlich zu besseren Ergebnissen führt, ist daher schon im Grundsatz nicht haltbar. Gerade weil die Bewertung für ein und dasselbe Ergebnis sehr unterschiedlich ausfallen kann. Gemeinsame „Spielregeln“ zu vereinbaren, erhöht die Zufriedenheit mit dem Beteiligungsprozess und steigert die Akzeptanz eines erzielten Kompromisses, auch wenn im Ergebnis ein Dissens bestehen bleibt. In einer Publikation des ZIA (Zentraler Immobilien Ausschuss e.V.) mit dem Titel „Bürgerbeteiligung in der Projektentwicklung“ wird die Bedeutung des Themas aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Erfahrungen, Erwartungen und Erkenntnisse zu Bürgerbeteiligungsverfahren von Politikern, Praktikern und Wissenschaftlern bilden das Herzstück des Buchs. Die heterogenen Hintergründe der Autoren bieten eine große Bandbreite von Blickwinkeln auf Bürgerbeteiligung bei Immobilienprojekten.

Statt für „mehr Bürgerbeteiligung“ im Sinne von mehr direktdemokratischen Verfahren sollten sich daher alle Akteure für „bessere Beteiligung“ einsetzen. Die Instrumente und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind vorhanden. Es ist an der Zeit, diese mit qualitativ hochwertigerem Inhalt zu füllen und gemeinsam an offenen, transparenten Prozessen der Beteiligung zu arbeiten. Ein purer Ruf nach „mehr Beteiligung“ wird sicher keine Verbesserung bringen und vor allem hilft er jenen nicht, die auf dringend benötigten, bezahlbaren Wohnraum warten.

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von DSK | BIG BAU-Unternehmnsgruppe
Erstveröffentlichung: Immobilien & Finanzierung 01/2016