Ursula von der Leyens Vision einer reformierten EU-Kommission
Mit ihrem radikalen Umbau der EU-Kommission setzt von der Leyen auf mehr Vernetzung und Kontrolle – doch was bedeutet das für den neuen EU-Wohnkommissar? Ein Blick hinter die Kulissen ihrer Matrixorganisation.
Alles neu: Ursula von der Leyens Vision einer reformierten EU-Kommission
Als Ursula von der Leyen das Amt der Bundesverteidigungsministerin übernahm, erkannte sie schnell, dass die Bundeswehr und besonders das Beschaffungswesen von enormer Trägheit geprägt waren. Innovationen und Reformen schienen kaum möglich. Ihr Ansatz: Externe Berater sollten die starren Strukturen aufbrechen und die Organisation flexibler, kommunikativer und lernfähiger machen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die ehemalige McKinsey-Partnerin, Katrin Suder, die sie zur Rüstungsstaatssekretärin ernannte. Es war der Versuch, Methoden der Unternehmensberatung auf das Verteidigungsministerium zu übertragen.
Diese Vorliebe für Beratungsansätze hat von der Leyen auch auf ihre politische Arbeit übertragen. Dies zeigt sich insbesondere in ihrem Vorschlag für die neue Struktur der EU-Kommission. Hier setzt sie erneut auf eine radikale Umgestaltung, die die Art, wie die Kommission arbeitet, von Grund auf verändern soll.
Die neue Struktur: Abschied vom Kollegialitätsprinzip
Traditionell arbeitete die EU-Kommission nach dem Kollegialitätsprinzip: Jeder Kommissar ist gleichberechtigt, unabhängig von Herkunftsland, Parteizugehörigkeit oder Ressort. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Dieses Prinzip hat von der Leyen formal beibehalten, doch in der Praxis entwirft sie eine völlig neue Struktur. Neben der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas wird es künftig fünf Exekutiv-Vizepräsidenten geben. Diese "Kommissare erster Klasse" koordinieren große Themenbereiche und berichten direkt an die Kommissionspräsidentin – eine Neuheit, die ihnen exklusiven Zugang zur Chefin verschafft. Die übrigen 20 Kommissare, die Fachkommissare, haben deutlich weniger Einfluss und können nur dann Initiativen durchsetzen, wenn sie die Zustimmung der Exekutiv-Vizepräsidenten erhalten.
Besonders augenfällig wird dies beim neuen EU-Wohnkommissar. Der designierte Däne Dan Jorgensen hat kein eigenständiges Mandat, sondern muss sich stets mit anderen Kommissaren abstimmen, deren Bereiche seine Vorschläge betreffen. Obwohl zuständig für die Wohnfragen ist (für die die EU eigentlich gar keine Gesetzgebungskompetenz hat), fehlt ihm in jeder Initiative, die er anstoßen will, ein Puzzleteil, für das ein jeweils anderer Kommissar zuständig ist. Ein Beispiel: Will er die EU-Gebäuderichtlinie reformieren, muss er den Klimakommissar, den Niederländer Wopke Hoekstra, fragen, ob das mit dem EU-Green Deal vereinbar ist. Hoekstra wiederum, der weiß, dass eine Lockerung der EU-Gebäuderichtlinie unmittelbaren Einfluss auf die Lastenteilung und die Zertifikate im Emissionshandelssystem haben, braucht eine Rückversicherung bei der neuen Exekutiv-Vizepräsidenten, der ehemaligen spanischen Umweltministerin Teresa Ribera, die für die übergeordnete Klimapolitik verantwortlich ist. Um es kurz zu machen: Wer als Wohnkommissar Erleichterungen bei nur einer Richtlinie erreichen will, muss tatsächlich mit bis zu fünf anderen Akteuren gleichzeitig kooperieren. Diese „Matrixorganisation“ bringt eine hohe Komplexität mit sich.
Mehr Kommunikation, aber auch mehr Bürokratie?
Von der Leyen verfolgt mit dieser Matrixstruktur das Ziel, das sogenannte „Silodenken“ zu durchbrechen. Sie möchte, dass Themen wie Wohnen und Bauen, Energie- und Umweltpolitik nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel entwickelt werden. So soll eine umfassendere und kohärentere Politik entstehen. Doch die Frage stellt sich: Gab es dieses Silodenken überhaupt?
Als die EU-Kommission im Juli 2021 das Fit-for-55-Paket vorstellte, ein wichtiger Meilenstein zur Erreichung der Klimaziele bis 2030, waren darin insgesamt 12 Richtlinien und Verordnungen enthalten. Alle Rechtsakte wussten voneinander. Wer die einzelnen Richtlinien und Verordnungen anliest, stellt überrascht fest, dass diese wechselseitig aufeinander abgestimmt sind und aufeinander referenzieren. Es gab also bereits einen intensiven Austausch zwischen den Generaldirektionen. Die eigentlichen Herausforderungen entstehen oft erst im weiteren Gesetzgebungsprozess, wenn die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament die Vorschläge modifizieren.
Reaktionsfähigkeit und Verantwortung – Fluch oder Segen der Matrix?
Matrixorganisationen gelten in der Theorie als besonders anpassungsfähig, da sie komplexe Herausforderungen durch die Verknüpfung verschiedener Themen besser koordinieren können. Doch auch hier lohnt ein Blick auf die Praxis: Während der Energiekrise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine reagierte die EU schneller und agiler als je zuvor.
Auf Ebene der Außenminister wurden insgesamt 14 Sanktionspakete gegen Russland geschnürt, mehrere Notfallverordnungen zum Substitut russischer Erdgasimporte gestrickt, Instrumente zur Preisdämpfung der Energiepreise entwickelt, ein neues Strommarkdesign mit 4 Richtlinien und Verordnungen geschaffen, eine neue Plattform zum gemeinsamen Gaseinkauf aufgebaut, die so gut funktioniert, dass sie für den Wasserstoffimport und weitere kritische Rohstoffe ausgeweitet werden soll. Es scheint also, dass die "alte" Kommission durchaus in der Lage war, schnell und wirksam zu handeln.
Mehr Transparenz durch personelle Lastenteilung?
Ebenfalls eine Idee der Matrix ist es, dass Themenverschneidungen und geteilte Zuständigkeiten für mehr Akteure sorgen, die Verantwortung tragen. Dadurch werden Fehler, Missstände oder Verzögerungen schneller erkannt, was zu mehr Verantwortungsbewusstsein führen kann. Mangelnde Performanz eines Akteurs wird durch die anderen mitwirkenden Akteure erkannt und entweder aufgefangen oder erzeugt Druck, sodass die Gesamtperformanz wieder stimmt.
Aber auch umgekehrt wird ein Schuh draus. Geteilte Zuständigkeiten können dazu führen, dass die Verantwortung für Fehler oder Probleme schwer zuzuordnen ist. Gerade wenn es darum geht, eine Initiative nicht zu starten, es also unpopuläre Themen gibt, Politikfelder vermachtet sind und Erfolge nicht zu erwarten sind, fühlt sich plötzlich niemand eindeutig verantwortlich, was Entscheidungsprozesse verlangsamen und Unklarheiten schaffen kann. Wenn die EU-Kommission bisher einen Vorschlag machte, wurde dieser öffentlich im Parlament beraten und von den Mitgliedstaaten entscheidend mitgeprägt. Bevor jetzt ein Vorschlag der EU-Kommission das Licht der Welt erblickt, hat bereits ein intensiver Austausch innerhalb der Behörde stattgefunden, was nichts Anderes bedeutet, als dass der wichtige politische Diskurs zur Entstehung von EU-Politik, der eigentlich öffentlich stattfinden muss, nun in der Blackbox Kommission stattfindet.
Eine Matrix für die Macht?
Warum also setzt Ursula von der Leyen auf dieses Modell? Die Antwort könnte in der Machtkonsolidierung liegen. Die Matrixstruktur stärkt von der Leyens Position, da alle wesentlichen Entscheidungen letztlich bei ihr zusammenlaufen.
Noch einmal sei das Beispiel der EU-Gebäuderichtlinie bemüht: Die fünf zuständigen Köpfe werden nicht nur interdisziplinär miteinander arbeiten müssen, sie müssen vor allem auch miteinander auskommen. Die für den Klimaschutz und Green Deal verantwortliche Exekutiv-Vizepräsidentin Teresa Ribera kommt aus der Parteienfamilie der Sozialdemokraten (S&D), ebenso wie der bereits genannte Wohnkommissar Jorgensen. Die beiden dürften sich verstehen. Doch die EU-Kommissare für Kreislaufwirtschaft (die ja auch Teil der EU-Gebäuderichtlinie ist), die Schwedin Jessika Roswall, und der für Klimapolitik zuständige Hoekstra, gehören der konservativen EVP an. Und zu allem Übel ist der Verbraucherschutz, der die Auswirkungen der Wohnkosten auf EU-Ebene im Blick behalten soll, der Ire Michael McGrath aus der liberalen Familie Renew entsandt. Wenn da nicht Streit vorprogrammiert ist…
Und wem nützt es? Läuft die Kommissionsarbeit reibungslos, ist es die Kommissionspräsidentin, die ihren Laden im Griff hat. Entsteht Streit, der über Themen- und Parteigrenzen hinweg nicht aufgelöst (bzw. dadurch erst entstanden ist), verbleibt das Letztentscheidungsrecht bei der Kommissionspräsidentin. Was auch passiert, Ursula von der Leyen sieht immer gut aus. Oder anders formuliert: Von der Leyen hat sich die Organisation auf sich selbst zugeschnitten. Sie sichert ihre Macht. Sie behält stehts alle Zügel in der Hand. Hier sichert sich jemand nicht die zweite, sondern schon die dritte Amtszeit.
Der Verdacht wird auch dadurch genährt, dass es niemanden mehr gibt, der sie in Frage stellen könnte. Alle Exekutiv-Vizepräsidenten, einschließlich der wichtigen EU-Außenbeauftragten, sind Neulinge in der Kommission. Die altgedienten Vizepräsidenten Valdis Dombrovskis und Maros Sefkovic wurden zu einfachen Kommissaren (zweiter Klasse) degradiert. Frühere Rivalen von der Leyens, wie der Niederländer Frans Timmermanns, die Dänin Margarete Vestager oder zuletzt der Franzose Thierry Breton mussten allesamt Brüssel verlassen.
Fazit: Eine Kommission im Wandel
Ursula von der Leyen scheint die EU-Kommission ganz auf ihre Person zugeschnitten zu haben – eine europäische Version von Angela Merkel, die ihre Macht geschickt und unaufdringlich festigt. Sie hat mit ihrem neuen Strukturvorschlag eine EU-Kommission entworfen, die deutlich anders funktioniert als ihre Vorgänger. Sie setzt auf mehr Kommunikation und Vernetzung, doch gleichzeitig entstehen neue Herausforderungen in Bezug auf Transparenz, Verantwortlichkeit und Entscheidungsfindung. Während die Matrixorganisation in der Unternehmenswelt oft funktioniert, bleibt abzuwarten, ob sie auch im politischen Betrieb der EU-Kommission den erhofften Erfolg bringt. Für Jubel über einen neu geschaffenen Posten des EU-Wohnkommissars ist es noch viel zu früh. Es ist völlig unklar, ob Dan Jorgensen sich in dieser Matrixorganisation zurechtfinden kann, vor allem bei einem Thema, das originär kein Politikfeld für die EU ist. Klar ist jedoch: Von der Leyen sichert sich und ihrer Machtstruktur einen zentralen Platz im zukünftigen Gefüge der EU.
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Erstveröffentlichung: The Property Post, Oktober 2024